Normalsein ist nicht einfach by Houchang Allahyari

Autor:Houchang Allahyari [Allahyari, Houchang]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Amalthea
veröffentlicht: 2017-01-15T00:00:00+00:00

Der Chef des Krankenhauses war auch Chef der Chirurgie, ein Wiener, bei dessen Erziehung Wert darauf gelegt worden war, hochdeutsch zu reden. Ich habe bei ihm jedes Wort verstanden. Er besaß ein schönes großes Haus, in das er mich ein-, zweimal einlud. Bei ihm erkannte man sofort, dass er gut lebte, und er war ein guter Chirurg. Sein Tick waren die Gallenblasen. Er war ständig am Gallenblasenoperieren. Vor allem bei Klassepatienten, die zusätzlich bezahlten, war die Gallenblase schon weg, so schnell konnten sie sich gar nicht eingewöhnen.

Es war eine schnelle, leichte Operation. In der Allgemeinen Chirurgie verdiente man damals mit der Entfernung der Gallenblase am meisten, weil sie nicht lange dauerte. Am wenigsten verdiente man mit schweren, komplizierten OPs, die sich über den halben Tag hinzogen. Ich habe sehr viel an der Seite dieses Arztes assistiert und eine Menge dabei gelernt.

Der Chef hatte sein Büro im dritten Stock. Die Portiersloge befand sich wie üblich gleich beim Eingang ins Spital. Man muss sich das so vorstellen, dass die meisten Menschen der Umgebung einander kannten. Kam nun ein Bauer, um sich ins Spital aufnehmen und operieren zu lassen, und der Portier wusste, dass es ein reicher Bauer war, lief der Mann aus seiner Portiersloge heraus und rief in den dritten Stock hinauf: »Agricola bona!« Also: »Guter Bauer!« In der Annahme, dass der Bauer kein Latein verstand, wurde diese Art der Informationsweitergabe (heute nennt man das kurz »IT«) als völlig unproblematisch betrachtet. Es kam vor, dass auch ich den Portier »Agricola bona!« in den Stock hinaufrufen hörte, und da wusste ich: Die Gallenblase ist weg. Die Bauern hatten entweder Geld oder eine Gallenblase. Beides war in dieser oberösterreichischen Stadt nicht möglich.

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